Unbekanntes sichtbar machen
Zu den Arbeiten von Anna Heydel
von Volker Schwennen, Kurator KW/Randlage
Viele bunte Punkte auf schwarzem Grund sind zu sehen, vereinzelt ziehen sich geschwungene Linien durchs Bild, werden Formen sichtbar, die oftmals wieder nebelhaft verschwimmen. Erinnerungen an Großstadtlichter werden wach, Strukturen wahrnehmbar. Ästhetisch aber uneindeutig sind die Bilder, mit denen uns Anna Heydel konfrontiert. Wer andere Arbeiten von ihr kennt aber weiß, dass ein prägendes Element ihrer Kunstproduktion die sehr verbreitete Brailleschrift ist, eine international von Blinden und stark Sehbehinderten genutzte Schrift. Ein Buchstabe besteht aus sechs Punkten, die meist von hinten in Papier geprägt werden und so mit den Fingerspitzen ertastet werden können. Die von Anna Heydel benutzte Brailleschrift erfüllt keinen praktischen Nutzen, sondern wird Mittel zum Zweck und zuweilen Ausgangspunkt für ebenso umfangreiche Arbeitsprozesse. Sie erforscht die Komplexität der vornehmlich visuellen Wahrnehmung. So erstellt sie in dieser Arbeit am Rechner zunächst Wörter in Brailleschrift, die allesamt Synonyme für das Sehen sind, verschiebt diese, überlagert sie und entscheidet sich dann für eine ästhetische Form, die sie selbst „digitale Skulptur“ nennt. Drei daraus entstehende Vorlagen projiziert sie nacheinander mit einem Beamer in Räume, auf Treppenaufgänge und Hauswände, statische oder flüchtige Hintergründe, Oberflächen und Objekte. Sie nutzt das Dunkel der Nacht, die Lichteinwürfe des Projektors und hält diese erneuten Überlagerungen und Verwischungen mit der Kamera fest. Die anfänglich konzeptuelle Ebene überführt sie über eine abstrakte räumliche in eine erneut digitale. Mit den entstehenden Fotografien untersucht sie weitere Möglichkeiten der Verfremdung und Verformung, verlagert mit dieser Arbeitsweise ihr eigenes Sehorgan in den Raum und ermöglicht ihm einen konkreten Eingriff in die Realität. So macht sie auf verschiedene Weise bislang Verborgenes und Unbekanntes sichtbar.
Die gezeigten Arbeiten der Serie „MinusMinusPlus“ entstanden Ende 2022 in der Galerie KW/Randlage in Worpswede. Anna Heydel wurde 1982 in Guayaquil / Ecuador geboren, studierte Politikwissenschaften in Marburg, war Lektorin bei der Frankfurter Rundschau und Projektleiterin der Sommerakademie des Fotografie Forum Frankfurt. Einige Jahre verbrachte sie auf Sardinien und lebt und arbeitet derzeit in Worpswede.
Aufhebung (2022)
In dem Projekt ° Aufhebung ° werden die drei Grundelemente Kreis, Dreieck und Quadrat so miteinander kombiniert, dass die Grenzen zwischen diesen Formen verschwinden. Die drei Zeichen bestehen aus farbigen Elementen, die durch die Projektion von Wörtern in digitaler Blindenschrift auf Menschen an verschiedenen Orten entstanden sind. Diese Projektionen wurden fotografiert und dann in die hier zu sehende Form gebracht. Wörter wie °Ich°, °finden°, ° Sicht°, °Porträt°, °Erinnerung° oder die °Namen° der Porträtierten gestalten visuelle Skulpturen. Die Einbettung jeder der drei Formen in jede der drei Formen visualisiert die Möglichkeiten der Verbindungen, die Optionalität der Realität. Porträts von Menschen schaffen ein Porträt der Aufhebung.
o.T. (2022)
In dieser Arbeit wird das fotografische Medium zum ersten Mal verlassen. 70 Synonyme des Verbes ° Sehen° in Blindenschrift bilden die drei Grundelemente Dreieck, Quadrat und Kreis, die jedoch in keiner Form vollständig sind. Die auf Spiegeln aufgebrachte und von der Blindenschrift perforierte Folie offenbart eine neue Art von Spiegelbild: Es ist kaum möglich, sich in den Grundformen zu erkennen, aber die Vielfalt der Punkte, ihre Strukturen und das ihnen innewohnende Sehen ermöglichen eine permanente Umformung von uns selbst und der Welt um uns herum.
MinusMinusPlus (2022)
Das Projekt ° MinusMinusPlus ° arbeitet mit drei digitalen Skulpturen, die jeweils aus 70 Synonymen des Verbs ° Sehen° in digitaler Brailleschrift bestehen. Sie werden nacheinander in Räume, auf Treppenhäuser und Hauswände, Flächen und Objekte projiziert. Die entstehenden Wahrnehmungsskulpturen werden mit der Kamera festgehalten. Die gezeigten Aufnahmen entstanden im Januar 2023 im KW/Randlage, Worpswede.
Rauminstallation. Termine nach telefonischer Vereinbarung.
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