Christine Schulz zeigt in ihrer Ausstellung Remember Lone Pine im KW/RANDLAGE Art Space Worpswede ausgewählte Unikate, Editionen und Videos. KW/R-Galerist Volker Schwennen sprach im August 2020 mit ihr über Inspirationsquellen, Arbeitsweisen, Installation und Raum sowie die Auswirkungen der Corona Pandemie auf ihr aktuelles Schaffen.
SCHWENNEN: Jede Video- oder Papierarbeit steht erstmal für sich und verlangt uns Betrachtenden oftmals schon viel ab, da sie einen zunächst irritieren und dann in eine Wirklichkeit versetzen, in denen sich Deine Erfahrungen und Sichtweisen auf eine Landschaft, eine Architektur oder Situation unweigerlich mit unseren eigenen vermischen.
Da wir beispielsweise Elemente wie eine kalifornische Landschaft oder die Golden Gate Bridge wiedererkennen und sich somit deine Verfremdung sowie Wahrnehmung und Bearbeitung deiner Realitäten mit unseren eigenen Realitäten, unseren Erfahrungen und Gefühlen vermischen. Somit könnte man deinen Arbeiten auch einen gewissen partizipatorischer Charakter zuordnen, da unsere individuelle Erfahrungen auf das, was wir tatsächlich sehen oder zu sehen glauben auch stark die individuelle Interpretation deiner Werke beeinflussen und – um bei einem wesentlichen Prozess Deiner Arbeiten zu bleiben – überlagern. Ist dies beabsichtigt oder möchtest du deine eigene womöglich klare Botschaft vermitteln?
SCHULZ: Eine eigene klare Botschaft? Nein, keinesfalls! Definitiv geht es mir nicht darum, meine eigene Sichtweise dem Betrachter aufzudrängen. Ganz im Gegenteil: Also Assoziationen, eigene Erfahrungen, eigenes Wissen, der Kosmos des Rezipienten fließt mit ein, und andere Facetten werden dadurch aufgeblättert! Besonders deutlich ist es bei den Installationen, da bewegt sich der jeweilige Besucher innerhalb des Raumes, sucht neue Blickachsen und vollendet so auf einmalige Art und Weise das Werk. Und dadurch entsteht, wie du gerade auch schon gesagt hast, eine zusätzliche Ebene der Überlagerung.
SCHWENNEN: Der Raum spielt bei dir eine immense Rolle. Auch wenn einzelne Werke bereits für sich stehen, inszenierst du diese in immer wieder neue Kontexte und beziehst hierbei den Raum mit ein. Wie gehst du an die Arbeit? Lässt du dich zuerst vom Raum inspirieren und entwickelst dann die Idee für das, was du zeigen möchtest oder ist es umgekehrt. Was bedeutet dir der Raum für deine Arbeit?
SCHULZ: Der Raum steht nicht an erster Stelle. An dieser stehen meistens Themen, die irgendwie zu mir kommen. Ich höre einen Bericht im Radio, ich erlebe etwas oder was auch immer sonst … Manche Themen wurden auch schon durch Einladungen zu Ausstellungen angeregt. Beispielsweise wurde ich 2009 in Leverkusen von Susanne Wedewer-Pampus in den KV eingeladen. Damals habe ich geschaut, was in dieser Stadt für mich von Interesse sein könnte und kam dann schnell auf das Bayerwerk – und fand heraus, das Bayer um 1900 herum Heroin als Schmerzmittel verkaufte. Durch das Heroin kam ich zu einem assoziativen Geflecht innerhalb der Popkultur – so entstand damals die Installation Placebo. Ab einem solchen Zeitpunkt, an dem ich ein Thema gefunden habe, durchsuche ich mein Archiv – bestehend aus Fotos und Videoaufnahmen. Ich entscheide dann, welche Aufnahmen ich in der jeweiligen Installation verwenden möchte.
Ich filme und fotografiere permanent, und weiß dann meist noch gar nicht, ob, wann oder wie ich die Aufnahmen einmal verwenden werde. Erst wenn ich weiß, was ich machen möchte, suche ich in meinem Fundus nach geeignetem Material und ergänze es danach durch gezieltes Filmen und Fotografieren, bzw. recherchiere auch im Internet oder in Printmedien nach weiteren Bildern oder Soundspuren. Zu diesem Zeitpunkt kommt dann ebenso physisches Material ins Spiel.
SCHWENNEN: Was können wir uns unter physischem Material vorstellen? Und was passiert dann?
SCHULZ: Um bei der Installation Placebo zu bleiben, kam zum Beispiel Wellpappe zum Einsatz. Die Räume des Kunstvereins hatte ich schon einige Monate zuvor besichtigt. Und als ich dann mit sämtlichen Medien vor Ort anfing diese zu installieren, traf ich dort auch die endgültigen Entscheidungen – das Werk entsteht also direkt Ort. Und ich nehme mir den Ort, den Raum zur Hilfe, um mein Ergebnis zu finden. So habe ich im KV in Leverkusen aus einer etwa 270 cm hohen Wellpappe labyrinthartige Gänge durch den gesamten Kunstverein gebaut. Zu einem solchen Zeitpunkt bin ich gerne alleine in einem Raum mit all den Materialien und arbeite gerne ungestört. Manchmal läuft bereits schon ein Sound oder eine Projektion. Und alles wächst dann aufeinander aufbauend und miteinander zu einem großen Ganzen.
SCHWENNEN: Die ungestörte Arbeit im Raum, dass sich langsame Entwickeln, das Prozesshafte verstehe ich gut. Daher bleibe ich noch kurz bei diesem Thema und würde gerne erfahren ob es irgendwo einen Raum gibt, der Dich so besonders reizen würde, dort mal eine Installation zu erarbeiten?
SCHULZ: Interessante Frage! Grundsätzlich fällt mir spontan kein Museum oder Kunstverein mit einem entsprechend besonderen Raum dazu ein. Aber als ich 2019 für den Paula Modersohn Becker Preis in Worpswede nominiert war, und den ersten Besichtigungstermin in der Großen Kunstschau hatte, habe ich sofort eine große Begeisterung für die Große Rotunde empfunden. Und dass ich meine Installation Facility Way genau dort installieren konnte, hat mir eine große Freude bereitet. Der runde Raum ist sehr stark und er war nicht ganz einfach – aber ich war sehr glücklich dort!
SCHWENNEN: Du hast bezüglich Deiner Arbeit Placebo über den Ort Leverkusen, das dort angesiedelte Bayerwerk unter die Lupe genommen, fandest heraus, dass um 1900 Heroin als Schmerzmittel verkauft wurde, stellst dann einen Link zur Popkultur her ... Ohne die Arbeit gesehen zu haben drängt sich einem bei Deiner Beschreibung der Verdacht auf, dass Du neben einer möglichen Gesellschaftskritik auch mit viel Humor arbeitest?
SCHULZ: Humor, ja, vielleicht – eine gewisse Leichtigkeit in meinen Arbeiten ist mir schon wichtig, eine Offenheit für mich und den Rezipienten. Leverkusen ist für mich ein typisches Beispiel dafür, dass meine Arbeiten häufig eng mit meiner eigenen Person verknüpft sind. Die Beschäftigung innerhalb der Placebo hatte viel mit meiner eigenen Sozialisation zu tun. Es war eine Reise in die Bilder der Zeit, in denen ich geprägt wurde, durch die Musik, die ich hörte, die Filme, die ich sah, die Freunde mit denen ich mich umgab. Um all das habe ich dann ein großes Netz gespannt, was mich in diesem Zusammenhang interessierte. Die Placebo ist daher auch sehr dicht geworden und der Raum wurde damit fast zum Verschwinden gebracht. Und die Tatsache, dass Bayer Heroin als Schmerzmittel entwickelte und es neben Aspirin in kleinen Fläschchen auf den Markt brachte, belustigte mich schon sehr.
SCHWENNEN: Du hast bereits einiges zu Deinen Inspirationsquellen und Deiner Arbeitsweise erzählt. Du hast Freie Kunst an der Hbk Braunschweig unter anderem bei John Armleder studiert, der für seine minimalen Eingriffe und Rauminstallationen bekannt wurde. Wie kamst Du überhaupt dazu, Kunst zu studieren? Gab es eine Initialzündung? Hast Du Dich gleich für Fotografie und Video interessiert? Und welchen Einfluss hat Armleder auf Dich und Deine Arbeit gehabt?
SCHULZ: An der HBK habe ich zunächst bei Thomas Virnich angefangen und bin dann etwa ab dem 4. Semester auch zu John Armleder und in die Filmklasse zu Birgit Hein gegangen. John Armleder hatte eine Professur für Malerei und Thomas Virnich unterrichtete die Bildhauer-Klasse. Meine Installationen beschreibe ich manchmal als Malerei im Raum mit den Mitteln der Fotografie und bewegten Bildern. Und die Konstruktionen, die ich dabei verwende sind bildhauerische Elemente, meine Rauminstallationen sind interdisziplinär.
Als ich anfing zu studieren wurde gerade die Fotografie von analog zu digital umgestellt. Dieser Wechsel beeinflusste meine Arbeitsweise ebenfalls.
In John Armleders Klasse zu studieren hatte besonders durch unsere gemeinsamen, also die gesamte Klasse umfassenden, 404 Projekte einen prägenden Charakter. Wir organisierten Ausstellungen, luden Künstler*innen aus der ganzen Welt ein und reisten zum Beispiel mit der Klasse nach New York und Südkorea. Einen Einblick in das künstlerische Schaffen John Armleders zu bekommen, besonders sein aktives Ausstellungstreiben weltweit, hat sicher einen tiefen Eindruck hinterlassen.
SCHWENNEN: Du sprichst begeistert von den Reisen der Studienzeit, von eingeladenen Künstler*innen aus aller Welt. Auch nach Deinem Studium gehörten Ausflüge in die Ferne zu Deinem Leben. Was macht für Dich den besonderen Reiz von Reisen, von Stipendien, die Arbeitsaufenthalte an anderen Orten ermöglichen, aus und wie wichtig ist Dir gestern wie heute der Austausch mit anderen Künstler*innen?
SCHULZ: Reisen ist in den Jahren immer ein Mittelpunkt im Leben von mir und meinem Mann Ingo Rabe, der selbst Künstler ist, gewesen. Das fing 1998 mit Hong Kong an. Damals haben wir noch studiert und analog fotografiert. Wir haben häufig unsere Berliner Wohnung gegen andere Wohnungen in der Welt getauscht und dadurch konnten wir uns Aufenthalte von einem bis zu zwei Monaten im Ausland leisten. Durch den Wohnungstausch hatten wir auch gleich eine Wohnung zum Arbeiten und Wohnen. Seit einigen Jahren habe ich jedoch ein ambivalentes Verhältnis zum Reisen bekommen. Es wird einfach zu viel geflogen, die Städte leiden unter der Explosion der Immobilienpreise, ich habe diese Entwicklung in Berlin sehr nah miterlebt.
SCHWENNEN: Werfen wir zwischendurch einen Blick auf die Ausstellung im KW/RANDLAGE. Neben zwei Videos sehen wir verschiedene Papierarbeiten welche sich auf deine Aufenthalte in Amerika beziehen. Wie kamst Du nach Kalifornien, was waren deine Eindrücke und welchen Einfluss haben deine dort gemachten Erfahrungen auf deine Arbeit gehabt?
SCHULZ: Ich hatte schon davon gesprochen, dass wir unsere Wohnung in Berlin häufig gegen andere Wohnungen weltweit tauschen konnten. Und wir hatten das Glück, dass wir ein Angebot bekommen hatten, in der Nähe von San Francisco, in San Mateo, zwei Monate eine Wohnung zu übernehmen. Und das haben wir dann auch gemacht. Das war ganz wunderbar! Wir waren beide, also mein Mann und ich, noch nie in Kalifornien gewesen, waren noch nie in die USA gereist, bis auf das ich einige Male in New York gewesen war. Und das war ganz wunderbar, all das zu sehen, was man aus Filmen kannte, was man aus Bildern kannte, Edward Hopper zum Beispiel, das man gesehen hat, das das keine Fantasien sind, sondern das das tatsächlich die Abbildungen der Realität sind. Das waren zwei ganz wunderbare Monate. Und wir haben natürlich viel fotografiert und die Collagen und die bearbeiteten Fotografien, die man jetzt hier in der Ausstellung sehen kann, und die Videos, sind Resultate, sind Arbeiten, die durch diesen Aufenthalt entstanden sind.
Dieser Aufenthalt, diese ständige Ambivalenz zwischen dem was man sieht und dem was man schon kennt, das ist ein Thema, das sich schon die ganze Zeit durch meine Arbeit zieht, schon von Anfang an, diese Ambivalenz zwischen Filmbildern. Also bei mir sind es ganz extrem Filmbilder, es sind natürlich auch Romane oder auch Kunstwerke. Ed Rusha fällt mir in diesem Zusammenhang ein und es war auch ganz wundervoll, dass wir in San Francisco während unseres Aufenthaltes eine sehr große Ed Rusha Ausstellung sehen konnten, mit diesen beeindruckenden Bildern, die er geschaffen hat und gerade auch mit den Schriftzügen. Mir fällt dabei zum Beispiel meine Arbeit FINE ein, die dort in der Gegend von Lone Pine, in der Nähe des Mount Whitney aufgenommen wurde. In der Gegend wurden sehr viele Western gedreht. In Lone Pine waren wir dann auch, in diesem Städtchen, und diese Schrift, die ich über den Mount Whitney gelegt habe, steht auf jeden Fall auch in diesem Zusammenhang, das ich die Arbeiten von Ed Rusha in der Ausstellung in San Francisco gesehen habe.
Es ging mir so, das es da einen ständigen Abgleich gab. Wir sind gleich an einem der ersten Tage nach San Francisco gefahren und haben sofort die Golden Gate Bridge aufgesucht. Und so ist dann später die Arbeit entstanden, welche die Golden Gate Bridge in drei Ebenen übereinander montiert zeigt. Erstens eine Filmaufnahme, die ich an diesem Tag gemacht habe und als zweite Ebene Vertigo. Alfred Hitcocks Vertigo hat eines dieser Bilder, das ich nie vergessen habe, welches mich wahnsinnig fasziniert hat als ich den Film gesehen habe, wo Kim Novak an der Brücke steht, und sich ins Wasser stürzt. Und dann zu sehen, das der Ort gar nicht verändert ist, sondern das die Situatíon vor Ort auch definitiv auch so ist. – man findet sofort den Punkt, wo diese Szene gedreht wurde. Und ich habe dann später in den Film, den wir in der Ausstellung sehen, diese Vertigo-Ebene zusätzlich über die gelegt, die ich gefilmt hatte. Und als dritte Ebene habe ich dann noch ein Bild aus dem Videospiel Grand Theft, welches mein Mann mal spielte, wo sämtliche Orte San Franciscos nachanimiert sind, 3D-Animationen, Bewegtbilder, mit denen man sich mit einem Auto durch die Stadt bewegen kann, gelegt – was heute noch zeitgemäß ist.
SCHWENNEN: Nicht nur die aktuelle Klimabewegung, die Black lives matter-Bewegung, Proteste um steigende Mietpreise etc. und nun auch die massiven Auswirkungen der Corona-Pandemie hat vielen Menschen klar gemacht, dass wir uns nicht nur nationalen Annehmlichkeiten oder rein individuellen Wünschen hingeben können, sondern wir uns solidarischer mit unseren Mitmenschen von nebenan und in der Welt verhalten und uns auch um unser aller Planeten kümmern sollten. Welchen Einfluss haben diese Themen auf Dich und Deine künstlerische Arbeit? Welche Auswirkungen hat Corona auf Dich persönlich? Kannst Du Krisen etwas positives abgewinnen?
SCHULZ: Die tagespolitischen Ereignisse haben zunächst keine konkreten Auswirkungen auf meine aktuelle künstlerische Arbeit. Ganz im Gegenteil habe ich mir die Aufnahmen aus Kalifornien von 2012 durchgesehen und für meine Ausstellung im KW/R zwei Videos und einige weitere Papierarbeiten für den Zyklus angefertigt. Die Corona Pandemie allerdings hat sich auf meine Lebensgewohnheiten sehr ausgewirkt. Es hat tatsächlich zu einer starken Entschleunigung geführt. In den letzten Jahren bin ich regelmäßig, etwa zweimal im Monat, zwischen Berlin und Garbolzum gependelt. Seit März war ich nur selten in Berlin. Ich hatte Ende Februar ein großes Projekt im Motel One am HBF ausgeführt und im Anschluss darauf direkt noch zwei Ausstellungseröffnungen, eine in Bochum im Kunstmuseum und die zweite in Braunschweig im Konsumverein. Als die ersten dramatischen Nachrichten über Covid-19 aufkamen, haben mein Mann und ich uns zunächst nach Garbolzum in unser Atelier zurückgezogen. Wir haben dann irgendwann nach und nach wieder den Kontakt zu Freunden und Künstlerkollegen aufgenommen.
Die Entschleunigung hat dazu geführt, dass ich verschiedene Aufgaben, die durch zu schnelles Arbeiten, Zeitdruck von Außen etc., in den letzten Jahren liegen geblieben waren, wieder aufgegriffen und teilweise Lösungen für sie gefunden habe.